Idas Regal der ausgelesenen Bücher · Thriller & Horror

Rezension | Tess Gerritsen: “Totenlied” (2015)

„Hörst du es nicht? Die Leidenschaft, die Seelenqual dieser Musik. In diesen ersten sechzehn Takten, wo die Melodie eingeführt wird, liegt so viel Traurigkeit und Sehnsucht. In Takt Siebzehn schlägt es dann in Erregung um. Die Tonlage wird höher, das Tempo schneller. Ich sehe sie fast vor mir – zwei verzweifelte Liebende, deren Situation immer auswegloser wird.“ – Totenlied, S. 135

Totenlied“ ist ein Thriller, den mir meine Mutter einmal von einer Kollegin mitbrachte, die ihre alten Bücher aussortierte. Von „alt“ kann man bei diesem Buch zwar nicht wirklich reden, wurde es doch erst 2015 veröffentlicht – und doch lag es geschlagene anderthalb Jahre auf meinem Stapel ungelesener Bücher. Da ich neulich jedoch richtig Lust auf einen Thriller hatte, zog ich dieses schöne Buch hervor und musste direkt noch einmal das Cover bewundern. Erst beim erneuten Durchlesen des Klappentextes erkannte ich, dass es sich bei der Autorin Tess Gerritsen um die Schriftstellerin handelt, aus deren berühmter Feder das Ermittler-Duo Rizzoli & Isles stammt. Umso gespannter war ich auf die Geschichte, die mich zwischen den Buchdeckeln erwartete.

Die Geschichte handelt von Julia Ansdell, einer jungen Violinistin und Mutter einer dreijährigen Tochter. Auf einer Italienreise ergattert sie in einem Antiquitäten-Geschäft ein altes Notenbuch voller Zigeunerweisen. Zwischen den Seiten des Notenbuchs steckt ein einzelnes Notenblatt mit einer Walzerkomposition, deren Melodie Julia zuhause nachzuspielen versucht. Die Melodie, aufwühlend und schön, scheint jedoch der Auslöser einiger grauenhafter Dinge zu sein, die in Julias Haus geschehen, seit sie versucht hat, ihrer Geige die Melodie des unbekannten Walzers zu entlocken. Beunruhigende Ereignisse, die Julias Tochter Lily involvieren, bringen Julia schließlich dazu, nach Italien zu reisen, um die Herkunft der rätselhaften Komposition zu erfahren und dem Schrecken ein Ende zu setzen.

Der Thriller hat mich absolut überrascht. Der Schreibstil ist so eindringlich und einprägsam, dass man ihn noch Wochen später bewundernd im Kopf durchgeht. Ich fand es wunderbar, wie die einzelnen Figuren ausgebaut werden und eine Spannung erzeugt wird, die sich im Laufe der Geschichte nur zu steigern scheint, ehe sie in einem rasanten und unvorhersehbaren Ende gipfelt. Ich konnte gar nicht anders, als das Buch in einem Rutsch durchzulesen – es hat mich von der ersten Seite an gepackt und mich auch nach der letzten Seite noch lange nicht wirklich losgelassen.

Besonders bemerkenswert fand ich den Wechsel zwischen den beiden zeitlichen Erzählsträngen, die dem Thriller seine Struktur verleihen. Denn während Julia Ansdell in der Gegenwart herauszufinden versucht, welches Teufelswerk hinter diesem musikalischen Meisterwerk steckt, erfährt der Leser gleichzeitig Stück für Stück die Geschichte, die sich hinter dem Walzer mit dem bedeutungsschweren Titel Incendio verbirgt. Dafür wird die Familiengeschichte von Lorenzo Todesco ans Licht geholt, einem jungen Italiener, dessen Schicksal wie das vieler anderer durch die Geschehnisse des zweiten Weltkriegs geprägt wird. Dieser Geschichte ist auch Julia auf der Spur, und während sich diese beiden Erzählstränge abwechseln, geschieht hier etwas erzähltechnisch Wunderbares: Sie verflechten sich unmerklich ineinander und werden scheinbar eins – und das so subtil, das man als Leser kaum erwarten kann zu erfahren, was bei beiden geschieht, damit endlich die Wahrheit über Incendio ans Licht kommt.

Die Musik spielt in dem Thriller eine wesentliche Rolle, was ich absolut genial finde. Es gibt nicht viele, die die Wirkung von Musik so eindringlich beschreiben können, dass man als Leser förmlich spürt, wie die Melodien einen im tiefsten Inneren berühren – aber Tess Gerritsen gehört ohne Frage dazu. Die Musik ist Teil von Julias Leben, bekommt jedoch durch die alte Walzerkomposition und die damit verbundenen, unheimlichen Ereignisse einen fast bitteren Nebengeschmack. Auch Lorenzo ist fest mit der Musik und seinem Geigenspiel verwoben. Er spielt wie kein Zweiter und hat ein außergewöhnliches musikalisches Talent. Auch seine Liebe zur Musik wird durch die zeitlichen Umstände getrübt, in denen er lebt. Sein Schicksal und das vieler anderer Juden zur Zeit des Nationalsozialismus hat mich sehr bewegt, fassungslos gemacht und zum Weinen gebracht. Obwohl ich schon viel aus der Zeit um den zweiten Weltkrieg herum gehört habe, ob im Geschichtsunterricht, in zahlreichen Dokumentationen, Filmen und Büchern, die sich mit dieser Zeit auseinandersetzen, oder auch durch meine Ur-Omi, die selbst das Grauen dieser Jahre durchlebte, bin ich trotzdem jedes Mal aufs Neue schockiert von den vielen Gräueltaten der Anhänger Hitlers und dem grenzenlosen Leid, dass sie den Menschen zugefügt haben. Der Autorin ist es unfassbar gut gelungen, verschiedenste Aspekte miteinander zu verbinden und eine Geschichte zu erzählen, die einem die Nackenhaare zu Berge stehen lässt und dessen Ende einen kalt erwischt.

Ein absolutes Highlight dieses Buches ist für mich jedoch das Musikstück Incendio selbst. Wahrscheinlich seid ihr jetzt genauso sprachlos wie ich es war, wenn ich euch erzähle, dass man sich dieses Stück tatsächlich anhören kann. Tess Gerritsen hat es selbst komponiert und es von der begnadeten Violinistin Susanne Hou einspielen lassen. Wenn das nicht absolut genial ist, dann weiß ich auch nicht! Unter diesem Link bekommt man eine kleine Kostprobe des Stücks: [Klick!] Auf YouTube ist zudem noch eine Version verfügbar, in der Tess Gerritsen den Violinisten Joerg Wildmoser am Klavier begleitet: [Klick!]

Ich spreche hiermit eine klare Empfehlung für ‚Totenlied‘ aus! Abgesehen von dem selbstkomponierten Stück, aus dem tiefste Sehnsucht und Traurigkeit herausklingt, ist es genau das, was die Geschichte von Julia und Lorenzo und Incendio trägt: die Macht der Musik, die Jahrzehnte und Menschenschicksale überdauert und deren Eindringlichkeit jeden einzelnen zu berühren vermag.

 


Autor:   Tess Gerritsen
Titel:     Totenlied [OT: Playing with Fire]
Verlag:  Limes Verlag
Jahr:      2015
Seiten:   314
[Genre:  Thriller]


 

3 thoughts on “Rezension | Tess Gerritsen: “Totenlied” (2015)

    1. Liebe Janika,
      ach, das freut mich! 🙂 Falls du es lesen solltest, hoffe ich, dass es dir so gut gefällt wie mir. Und die Umsetzung des Musik-Aspekts hat mich auch ziemlich umgehauen!
      Liebe Grüße,
      Ida

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