Ida schreibt

Writing Friday Special: ‘Schneeflocken in der Nacht’

Einen Tag vor dem zweiten Advent möchte ich euch im Zuge des Dezember Specials des #WritingFriday von Elizzy die achte Geschichte von insgesamt 24 erzählen, die der kleinen Marie im ersten Türchen unseres Adventskalenders als ganz besonderes Weihnachtsgeschenk versprochen wurden. Eine Übersicht zu dem Adventskalender findet ihr im Übrigen auf Elizzys Seite. Gestern durften wir das siebte Türchen dieses Adventskalenders öffnen und die bezaubernde Geschichte von Janika lesen, heute öffnet sich auf meinem Blog die achte Tür.

 

Tuerchen8


Schneeflocken in der Nacht

 

Tief in den Wäldern Kanadas, wo der Sommer herrlich warm, der Herbst kunterbunt, und der Winter noch bitterkalt war, lebte ein Mann in seiner hölzernen Blockhütte.
Die Leute in der kleinen Stadt einige Kilometer weiter, die ihn von seinen sporadischen Einkaufsausflügen kannten, hielten ihn für verschroben. Das mache die Einsamkeit eben mit einem, sagten sie achselzuckend. Nicht einmal der Hund, der ihn auf Schritt und Tritt begleitete, könne daran etwas ändern. Das war die allgemein vertretene Meinung, und solcherlei Engstirnigkeit ließ sich auch nicht mit Tatsachen beikommen.
Denn Bert, so hieß der Mann nämlich, der mit Vorliebe Flanellhemden und einen weichen, dunkelgrünen Schal trug, war gar kein grummeliger, eigenwilliger Einsiedler. Und einsam war er auch nicht. „Es gibt einen Unterschied zwischen einsam sein und alleine sein“, pflegte er stets zu seiner treuen Hündin Polly zu sagen.

Bert lebte gern fernab der Menschen. Die Menschen und das hektische Gewimmel der Stadt waren schließlich der Grund, warum Bert jetzt die Holzhütte mitten im kanadischen Mischwald bewohnte. Auf sein gemütliches Heim zwischen hohen Laub- und Nadelbäumen, deren Gewisper ihn nachts in den Schlaf wiegten, war er im Übrigen sehr stolz, denn er hatte es mit seinen eigenen Händen erbaut. Polly hatte ihn dabei selbstverständlich tatkräftig unterstützt und in wahrer Hundemanier abgeschlagene Äste und Stöckchen fortgetragen. Die ausgiebigen Streicheleinheiten hatte sie mehr als bereitwillig als Belohnung dafür akzeptiert.

Jetzt saßen sie vor dem Kamin, der knackend seine wohlige Wärme verbreitete. Draußen rieselte sanft der Schnee und bedeckte den mondbeschienenen Wald mit einer silbrig glitzernden Schicht. Polly hatte es sich vor dem breiten Sessel bequem gemacht und ihren Kopf auf Berts Füßen abgelegt, die in dicken, blauen Wollsocken steckten. Ein wohliges Seufzen stahl sich dann und wann über Berts Lippen, das nur vom sanften Klappern des Löffels in der Tasse unterbrochen wurde. Polly hob erwartungsvoll den Kopf und betrachtete Bert mit ihren glänzenden Knopfaugen. Sie wusste, was das Klappern zu bedeuten hatte: Bert trank seinen Kakao. Und Kakao bedeutete: Bert würde Polly wieder eine seiner fantastischen Geschichten erzählen. Und richtig! Nach einem Blick aus dem Fenster, das an den Rändern von kunstvoll geformten Eisblumen überzogen war, räusperte Bert sich und wuschelte mit einer Hand durch Pollys Fell. Bert liebte es, sich Geschichten für ihn und Polly auszudenken. Und Polly liebte es, dem tiefen Bass von Berts Stimme zu lauschen.

„Es war einmal“, begann Bert feierlich und rührte gedankenverloren in seiner Tasse, „Es war einmal eine kleine Schneeflocke. Sie war eine besonders hübsche Schneeflocke und liebte es, durch die kalte Winterluft zu tanzen und ausgelassen herumzuwirbeln, dass es nur so glitzerte und funkelte. Doch eines Tages landete die kleine Schneeflocke auf dem Fenstersims einer kleinen Holzhütte, aus deren Fenstern behagliches Licht drang. Drinnen saßen ein Mann, ein verschrobener Einsiedler, wenn man so will, und seine liebe Hündin und hatten es richtig, richtig schön.“ Hier gluckste Bert fröhlich, der Anfang dieser Geschichte gefiel ihm prächtig.

„Bei diesem Anblick wurde der kleinen Schneeflocke vor lauter Sehnsucht ganz schwer ums Herz. Sie wollte auch dort sitzen und Geschichten lauschen! Aber ach, sie würde schmelzen, beträte sie die kleine Hütte.“ Bert nahm einen Schluck von seinem Kakao und schmatzte genüsslich, ehe er mit einem Blick in das prasselnde Feuer des Kamins fortfuhr. „Die kleine Schneeflocke war untröstlich und weinte viele winzig kleine Eiszapfen. Da hörte sie das durch den tiefen Schnee gedämpfte Stapfen schwerer Stiefel auf sich zukommen.“

Polly spitzte die Ohren und schnüffelte aufgeregt. Mit einem beruhigenden Kopftätscheln für Polly und einem Blick auf das Gewehr an der Wand sagte Bert: „Keine Sorge, Polly. Hier drinnen passiert uns nichts. Bären scheuen das Feuer. Und die Menschen scheuen uns. Hör zu, was nun mit der kleinen Schneeflocke geschah. Denn vor ihr stand Väterchen Frost, der ihr Weinen vernommen hatte und ihr gerne helfen wollte. Mit einer Stimme, die wie das Knirschen von frischem Schnee zu klingen schien, sagte er: ‚Halte ein mit deinem Weinen, denn ich bin bereit, dir deinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Für eine Nacht darfst du als Menschenkind auf dieser Erde wandeln. Aber sobald im Morgengrauen die Sonne die Schneedecke mit ihren flammenden Lippen wachküsst, musst du zu deinesgleichen zurückkehren. Sonst schmilzt du und darfst niemals wieder als Schneeflocke durch die Lüfte tanzen.‘“ Bert nickte bedächtig. „Die kleine Schneeflocke war überglücklich, als ihr Wunsch erfüllt wurde und sie sich im Silberglanz der Nacht in ein richtiges Menschenkind verwandelte. Mit glänzenden Augen und tausend Dank auf den Lippen eilte sie auf die Holzhütte zu, bereit, eine unvergessliche Nacht zu verleben.“ Ein Lächeln huschte über Berts Gesicht, als er sich die unbändige Freude der kleinen Schneeflocke vorstellte.

POCH, POCH, POCH.

Das Klopfen an der Tür, das in der Stille nachzuhallen schien wie ein Schuss, ließ Bert aus seinem Sessel aufspringen und Polly mit wachsam angelegten Ohren knurrend in Richtung Tür blicken.

POCH, POCH, POCH.

Wer erbat so spät am Abend noch Einlass bei ihnen? Immerhin, Bären besaßen nur selten die Höflichkeit, vorher anzuklopfen. Mit dem Gewehr in der Hand näherte sich Bert der Tür und öffnete sie mit einem Ruck. Er sperrte Mund und Nase auf, denn dort stand… dort stand…

„Schneeflocke“, hauchte er fassungslos.

Es bestand kein Zweifel, es musste die kleine, menschgewordene Schneeflocke sein, die jetzt mit rosigen Wangen und strahlendem Lächeln vor ihm stand. Einzelne im Wind trudelnde, dicke Schneeflocken verfingen sich in den flachsblonden Locken, die das glückselige Gesichtlein einrahmten. „Darf ich eintreten?“, fragte es mit einem Stimmchen wie tausende von klingelnd zerspringenden Eiskristallen. Sprachlos öffnete Bert der kleinen Gestalt die Tür zu seinem Heim, und im Laufe des Abends auch sein Herz.

Es wurde eine Winternacht, die Bert niemals vergessen würde. Bis in die Morgenstunden blieben sie wach, kochten eine Kanne Kakao nach der anderen, buken sogar gemeinsam Plätzchen und spielten mit Polly. Aber vor allem unterhielten sie sich, denn die kleine Schneeflocke hatte als Menschenkind verständlicherweise viele, viele Fragen.

Als es auf den Morgen zuging, saßen sie schweigend nebeneinander, wie zwei Menschen, die sich gut kennen und gemeinsam die Stille genießen können, ohne sie mit Worten überbrücken zu müssen. Ab und zu sahen sie sich an, erkannten einander im anderen, und lächelten.

Bert hatte die Morgenstunden im Winter immer als am schönsten empfunden. Die Natur, unberührt und gerade erst erwachend, von zuckerigem Eis und Schnee überzogen, der Himmel eine Mischung aus zartem Rosa und kühlem Eisblau. Doch heute empfand er beim Anblick dieser morgendlichen Schönheit eine andere, tiefere Wehmut als zuvor. Denn die kleine Schneeflocke nahm Abschied von ihm und Polly. Als sie mit ihren kleinen Füßchen von der Holzveranda in den Schnee trat, begann ihre Haut erst alabasterfarben zu schimmern, ehe sie immer mehr verblasste. Mit einem strahlenden Lächeln, wie sie nur Menschenkindern eigen ist, und einem Herzen voller Glück und Dankbarkeit blickte sie zu Bert zurück. Ihre Familie, die Schneeflocken, begannen schon sie freudig zu umwirbeln, und bald war sie wieder ein Teil von ihnen, eine kleine Schneeflocke, die im goldenen Strahl der Sonne glitzernd und von formvollendeter, kalter Schönheit von dannen tanzte.

Und Bert? Bert zog kurz die Schultern hoch, gluckste dann belustigt, wie es so seine Art war, und rief dann Polly zu sich, um mit ihr in der frischen, klaren Morgenluft durch den Schnee zu tollen. Sein Herz, das fühlte er, war über Nacht auf das doppelte angewachsen. Und einzig eine kleine Schneeflocke war der Grund für dieses Gefühl von Erfülltheit in ihm. Und – das könnt ihr mir glauben – wenn ein Mensch an diesem Morgen nicht einsam war, dann war es Bert in seiner Holzhütte in den tiefen Wäldern Kanadas.


Text: Ida


Morgen, am zweiten Advent, öffnet sich für euch das neunte Türchen bei der lieben  Gabriela.

 

 

22 thoughts on “Writing Friday Special: ‘Schneeflocken in der Nacht’

  1. Meine liebe Ida!
    Das war ein wunderschöner Text, der mir sogar glückliche Gänsehautmomente bescheren konnte. Ich kann mir gut vorstellen, wie gemütlich es Bert und Polly in ihrer Hütte haben. ❤️

    Liebste Grüße!
    Gabriela

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    1. Vielen Dank, liebe Gabriela! ❤
      Beim Schreiben hatte ich oft genug den Wunsch, mich einfach in die Hütte teleportieren zu können… 😀

      Liebste Grüße und ein schönes Adventswochenende! ❤
      Ida

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  2. Hey Ida,
    eine wundervolle und fantasievolle Geschichte! Ich habe Bert bereits nach ein paar Zeilen ins Herz geschlossen. Alleine schon für den Satz, dass es einen Unterschied zwischen einsam und alleine gibt.
    Deine Geschichte hat mir ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. 🙂
    Grüße, Katharina
    von http://www.kathakritzelt.com

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  3. Oh Ida, das ist aber eine wundervolle Geschichte. Und so schön geschrieben! Hach, ich hab ganz vergessen wie schön deine selbst verfassten Geschichten immer sind.
    Habe ich dich schon mal gefragt, ob du selbst auch schreibst? Also im Sinne von Büchern schreiben? Ich würde dich da sofort drin bestärken!
    Hab einen schönen Sonntag ❤
    Alles Liebe,
    Janika

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    1. Aaah Janika, dein Kommentar ist zu schön um wahr zu sein! Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie dankbar und gerührt ich immer bin, wenn ich solche lieben Worte lese. Vielen, vielen Dank dafür, es bedeutet mir sehr viel! ❤
      Zu deiner Frage: Ich habe schon ganz lange überlegt, ein Buch zu schreiben, aber bis jetzt habe ich mich noch nicht wirklich getraut, eine Geschichte im Buchformat zu erzählen, die vielleicht auch für andere lesenswert wäre. Aber irgendwann werde ich wohl auch die Feder zücken und es riskieren – vor allem, weil ich schon so lange davon träume. 😉 Danke für deine Ermutigung! ❤

      Hab morgen einen guten Start in die neue Woche!
      Liebste Grüße,
      Ida

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  4. Liebe Ida,
    deine Geschichte ist einfach … magisch! Da steckt so viel Bedeutung und Gefühl zwischen den Zeilen, so viel Liebe und Herzenswärme … Beim Lesen hatte ich Gänsehaut, musste Lächeln und mir das ein oder andere Tränchen der Rührung wegblinzeln. Eine wundervolle Erzählung. 🙂
    Liebe Grüße,
    Anna

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    1. Liebste Anna,

      Ich danke dir von Herzen für deine lieben Worte! Es ist so schön, wenn das Gefühl, das man beim Schreiben empfunden hat, auf den Leser übergeht. Ich freue mich wahnsinnig, dass dich die Geschichte so berührt hat – gerade in der Weihnachtszeit braucht man dann und wann eine Geschichte, die einen bewegt und die so wohlig warm ist wie eine dicke Wolldecke. ❤

      Hab einen wunderbaren Abend und einen guten Start in die neue Woche!
      Liebste Grüße,
      Ida

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    1. Danke liebste Elizzy! ❤ Dank dir hab ich gemerkt, dass mir das kreative Schreiben in den letzten Jahren echt gefehlt hat – ich kann dir gar nicht genug danken, dass du den Writing Friday ins Leben gerufen hast! 🙂

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