Fantasy / Fiktion · Idas Regal der ausgelesenen Bücher

Rezension | Michael Ende: Momo (1973)

„Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit.“

 – Michael Ende: Momo, S. 57

Wer ist denn diese Momo, die Titelheldin dieses Buches?
Zunächst einmal ist Momo ein kleines Mädchen, und sie hat ein Talent, das ganz besonders ist: sie kann anderen zuhören. Das klingt vielleicht banal, ist es aber nicht. Denn Zuhören, wie der Autor von „Momo“ weiß, kann nicht jeder. Denn viele Menschen haben überhaupt keine Zeit mehr, um anderen zuzuhören. Doch wenn man mit Momo Zeit verbringt, hat man die tollsten Ideen, man findet Lösungen für Probleme, die man nächtelang durchgekaut hat. Man erlebt die tollsten Abenteuer, denn allein Momos Präsenz scheint die Phantasie zu beflügeln und aus jedem das Beste herauszuholen. Doch dann kommen plötzlich immer weniger Kinder zum Spielen zu Momo. Und auch die Erwachsenen lassen sich kaum noch blicken. Und dann erfährt Momo aus erster Hand von den grauen Herren, aschgraue, Zigarren rauchende Männer mit Hut, die anderen Menschen ihre Zeit stehlen, indem sie sie davon überzeugen, dass sie ihre Zeit mit Unnützem verplempern und ihre Zeit eigentlich sparen sollten. Das Resultat: Die Welt wird grauer. Die Menschen werden griesgrämiger. Jetzt ist es an Momo, die Zeit der Menschen aus den Klauen der grauen Herren zu retten.

„Momo“ von Michael Ende ist eines dieser Bücher, das man auf der ersten Seite aufschlägt und sich auf den ersten Blick verliebt. Verliebt in die Hauptperson, Momo, in all die kleinen aber nicht weniger liebenswerten Nebenfiguren, in diese einmalige Geschichte, in die Zeichnungen, verliebt in diese Art zu Erzählen (die mich ein wenig an Erich Kästner erinnert hat, kein Wunder also, dass ich gleich verliebt war).

Es ist eine so anrührende Geschichte, die zum Innehalten einlädt, zum Durchatmen und zum Besinnen auf das Wesentliche. In unserer Gesellschaft muss es immer schneller gehen, stets wird gefragt: Geht es effizienter? Spart das Zeit? Muss das so lange dauern? Geht das auch in kürzerer Zeit? Ich finde, man fragt zu wenig: Was macht das Leben lebenswert? Und was tut mir gut? Worauf sollte man wirklich Wert legen? Zeit für Familie und Freunde, Zeit zum Lachen und Weinen, Zeit für sich selbst, Zeit, um Leib und Seele zu regenerieren und Kraft zu tanken für alles, was noch kommen mag. Die Geschichte in diesem Buch ist, obwohl sie schon 1973 veröffentlicht wurde, noch immer aktuell: Die Zeit als Gut, dass es zu organisieren und zu pflegen gilt, denn wer kennt es nicht: Spätestens an Silvester fällt einem auf, dass wieder einmal ein Jahr umgegangen ist, und seltsamerweise ziehen die Jahre immer schneller und schneller an einem vorbei, je älter man wird und je weiter man sein inneres Kind zurücklässt.

„Momo“ hat mich dazu ermutigt, in verschiedenen Situationen zu fragen: „Ist das wirklich notwendig, oder hat das Zeit? Trägt das zu meinem Wohlbefinden bei?“ Klar, Kochen beansprucht Zeit. Lernen, Putzen, einkaufen gehen und die Wäsche machen beansprucht Zeit. Und die Arbeit tut es auch. Aber wenn man eh schon dabei ist, sollte man diese Zeit doch auch genauso schön gestalten wie Momente, auf die man sich freut, so wie Beppo Straßenkehrer. Er ist einer von Momos besten Freunden, und er erledigt das Kehren mit Hingabe, Ernst und Liebe. Jemand hat mal gesagt: „Alles was du tust, tu mit Liebe, oder lass es bleiben“ – und ich schwöre feierlich, dass ich mich bemühe, diesen Satz wie ein Memo in mein System einzupflegen und auch zu beherzigen.
Seit diesem Sommer habe ich viel mehr Zeit draußen verbracht – ob im Urlaub am Meer, mit nichts als Wind im Haar, den Geruch vom Holzofen, das Gefühl von klebrigen Händen nach dem Tannzenzapfensuchen, Sand an den Füßen und Ruhe im Herzen, oder beim Pilze suchen oder beim Wandern und Spazierengehen in unseren heimischen Wäldern. Das reicht mir oft, um abzuschalten. Und ich bin dankbar für solche stillen Momente – ob allein oder mit denen, die ich liebe. Genau das ist es, was ich persönlich aus der Geschichte von Momo und den Zeit-Dieben mitgenommen habe: Ab und an braucht der Mensch einen kleinen Ruhepol in seinem Leben, und das sollte nicht nur einmal im Jahr der Fall sein. Sei ab und zu ein bisschen wie Momo, und nimm dir Zeit. Das ist der eine Schatz, der jedem Menschen zur Verfügung steht.

„Niemand schien zu merken, dass er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen jedoch bekamen es die Kinder, denn auch für sie hatte nun niemand mehr Zeit.
Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.
Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie.“

– Michael Ende: Momo, S. 72

 


Autor:   Michael Ende
Titel:     Momo
Zusatz:  oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte
Verlag:  K. Thienemanns Verlag Stuttgart
Jahr der Veröffentlichung: 1973
Seiten:   267


 

23 thoughts on “Rezension | Michael Ende: Momo (1973)

  1. Momo, mann, ist das lange her, dass ich die Bücher von Michael Ende gelesen habe, so lang, dass ich mich noch an meine latente Angst vor diesen grauen Herren erinnern kann, genauso wie die brisante Gefahr, die Die unendliche Geschichte für mich immer ausstrahlte. Ich glaub, ich sollte noch mal probieren, die Bücher zu lesen, das kindliche Unbehagen ist jetzt wohl genug verschwunden…:-)
    Und den Vergleich mit Erich Kästner kann ich sehr gut nachvollziehen!

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    1. Wie schön, dass noch jemand anderes die Ähnlichkeit zu Erich Kästner sieht 🙂
      Und du hast recht, Die unendliche Geschichte will ich auch irgendwann nochmal lesen – es ist so spannend, Bücher aus seiner Kindheit im Erwachsenenalter noch einmal aufzugreifen. Das Unbehagen vor den Grauen Herren kann ich verstehen – sind ja auch recht furchterregende Gestalten 😉

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